spiraleTEIL D

HOLOPHYSIK


Physis
ist griechisch und heißt ‚Natur’. Hieraus ist der Begriff Physik abgeleitet. Holos ist ebenfalls griechisch und bedeutet ‚umfassend’ und ‚ganz’. Aus diesem Grund werden wir die Dinge nun aus einem holophysischen Blickwinkel betrachten. Denn diese interdisziplinäre Sichtweise erleichtert das tiefere Eindringen in die Materie. (19)

Ich wiederhole hier noch einmal unsere Zielformulierung:

Eine technisch umzusetzende Systemkonstruktion soll mittels der Nutzung verschiedener Kräfte des Mikro- und Makrokosmos ausreichend große Mengen Exergie abgeben können, ohne daß hierbei spezielle Ressourcen verbraucht oder ökologische und andere Folgeschäden verursacht werden.


Bei einer öffentlichen Ausschreibung würde dies in etwa der Text der gewünschten Spezifikation sein. Im Vergleich zur tatsächlichen gegenwärtigen Lage wirkt diese Zielformulierung allerdings derart vermessen, daß ich sicher bin, daß eine Annäherung an diese Wunschvorstellung (und ihre Umsetzung!) wohl nur über die holophysische Betrachtungsweise erfolgen kann. Ich werde ein Beispiel dafür anführen, warum dies auf anderem Wege nicht, oder zumindest nur sehr eingeschränkt, geht, z.B. im Fall der Biosphäre:

„Wissenschaftliche Methoden sind nicht fähig, die Funktion der Biosphäre zu verstehen, und zwar aus zwei Gründen:

Die Wissenschaft ist in kleine luftdichte Kammern aufgeteilt, wobei diese Kammern keine Kommunikation unter sich haben. Die Biosphäre ist aber eine Einheit mit einem koordinierten Prozeß, den man nicht aufteilen kann.

Die Wissenschaft hat einen reduktionistischen Charakter, d.h. sie versucht, ein komplexes natürliches System durch die Prüfung seiner Teile zu erklären, meistens isoliert, unter laborkontrollierten Bedingungen. Ein natürliches System ist aber viel mehr als die Summe seiner Teile, das heißt, einmal auseinandergenommen, kann man es nicht wieder zusammensetzen.“ (20)


Auch beim Synergetischen Modell ist es ausgesprochen wichtig, den gesamten koordinierten Prozeß zu betrachten. Denn auch hier haben wir es mit einem komplexen System zu tun, das weit mehr ist als nur die Summe seiner Teile.

Verschiedene Betrachtungsweisen (z.B. Methodik / Logik / Induktion / Ideologie / Morphologie usw.) führen zu verschiedenen Resultaten, wobei leider nicht alle Betrachtungsweisen reversibel sind. Die holophysische Betrachtungsweise funktioniert dagegen in beiden Richtungen – und der Ausgangspunkt kann sowohl der gegebene Zustand als auch das anvisierte oder gar schon bekannte Ziel sein.

Das Verstehen der grundsätzlichen Abläufe im physikalischen Geschehen erreicht das Bewußtsein des Betrachters über den hier abgebildeten Iterationskreislauf der wissenschaftlichen Erkenntnis (21). Aus diesem Kreislauf heraus kommen Impulse für Anwendungen – und in ihn hinein gelangen Impulse der Nachfrage ... sowie das Erstaunen beim Schauen neuer, bisher noch nicht betrachteter bzw. beachteter Abläufe im physikalischen Geschehen.

Prof. Timothy Leary führte in die Wissenschaft das Symbol I2 ein, Intelligenz im Quadrat. Dies ist jedoch nur eine erste und eher skizzenhafte Benennung des physikalischen Geschehens (oder des physikalischen Teils des Geschehens) ‚das Nervensystem studiert das Nervensystem’. Wir werden sehen, daß weder das ‚I’ dazu ausreicht, das studierende Bewußtsein zu beschreiben, noch das ‚hoch 2’, um dessen Erweiterungen auch bedienen zu können. Mit I2 kann man vielleicht gerade mal lernen, sein Nervensystem auf verschiedenen Funktionsebenen neu zu programmieren. Es reicht aber noch lange nicht aus, um auch grundlegend neue und eigene Programme zu entwerfen. Dafür ist eine umfassendere Betrachtungs- und Handlungsweise erforderlich – eben die holophysische.

Holophysisch an ein Thema herangehen impliziert eine Beurteilung ohne Parallaxen.


Parallaxe bedeutet Winkeldifferenz bzw. Falschablesung bei schräger Betrachtung von Instrumentenanzeigen.

Bei der holophysischen Betrachtungsweise haben alle zu untersuchenden Systemkomponenten zentrale und nicht periphere Funktionen. Holophysik erfordert daher eine aktiv dynamische Betrachtungsweise. Ich habe versucht, mich in der vorliegenden Arbeit an diese Prämisse zu halten.

Der ungarische Biochemiker und Nobelpreisträger Albert von Szent-Györgyi Nagyrapolt beschrieb einmal, was er unter Wissenschaft und Forschung versteht: „Forschen – das bedeutet, das zu sehen, was alle sahen, und so zu denken, wie noch niemand dachte.“ (22)

Die naheliegende Frage, warum denn noch niemand jemals so gedacht hat, läuft wohl unter der Rubrik ‚Geheimnisse des Bewußtseins’. Dort würde uns dann C. G. Jung auf Anfrage darüber informieren, daß „selbst gebildete Leute, die es besser wissen könnten, gelegentlich die unsinnigsten Argumente brauchen, unlogisch werden und das Zeugnis ihrer eigenen Sinne verleugnen,“ ...bloß um ihre eingefahrenen Denkschablonen nicht verlassen zu müssen (23). Die Macht der Gewohnheit – man ist es einfach nicht ‚gewohnt’, Dinge anders anzuschauen, als man sie für gewöhnlich anschaut. Eine fatale Falle.

Es mögen noch andere Gründe dafür maßgeblich sein, daß an gewohnten Denk- und Sichtweisen so krampfhaft festgehalten wird. Für uns zählt jedoch nur, daß es trotz alledem immer Menschen gegeben hat, die im Rahmen ihrer Forschungen den innovativen Schritt taten – und zum ersten Mal so dachten, wie es vor ihnen noch kein anderer getan hat. Das größte Problem dieser Innovatoren war dann allerdings das mangelnde Verständnis ihrer Mitmenschen. Zumindest eine gewisse Zeit lang...

Zur holophysischen Betrachtung brauchen wir jedenfalls ein ziemlich großes Denkfeld – es soll ja auch eine große Zahl von Fakten darauf Platz finden. Das innere Erschaffen eines derartigen Denkfeldes ist dabei gar kein so großes Problem, da sich Denkbegrenzungen höchst selten in allen Denkrichtungen gleichermaßen bemerkbar machen. Zumeist sind es nur einzelne Komplexe, die vor dem Bewußtsein abgeschirmt werden (der bekannte ,Blinde Fleck’), und deren Abschirmung durch Konzentration, Reflexion oder Meditation durchbrochen werden muß. Manchmal kann die Abschirmung aber auch durch äußere Einflüsse durchbrochen werden.

Gibt es ein Problem, so ist in ihm auch die Lösung zu suchen und zu finden. Das Problem aber isoliert, d.h. von außen zu betrachten, um so vielleicht eine Lösung zu ‚erdenken’, ist weitaus schwieriger, wenn nicht gar unmöglich. Man wird so niemals das Ganze sehen, sondern immer nur den Ausschnitt des jeweiligen Blickwinkels. Auf jeden Fall empfiehlt sich die Adaption neuer Programme nach dem Motto:

„Wenn Ihnen eine neue funktionelle Theorie angeboten wird, dann seien Sie bitte so nett und schmeißen die alte Theorie wieder auf den Komposthaufen der Geschichte.“ (24)


Sich bei der Untersuchung ‚neu be(ob)achteter’ Abläufe im physikalischen Geschehen jedoch an antiquierten Theorien, Gesetzen und Regeln festzuklammern – und sei es nur aus nostalgischen Gefühlen –, ist dagegen gesellschaftspolitisch und volkswirtschaftlich äußerst schädlich. Die Neuerungen setzen sich so oder so irgendwann einmal durch, auch wenn viel zu oft die ursprünglichen Protagonisten dann schon lange nichts mehr davon haben.

Sätze wie: „Die Technik stellt die Mittel her, die uns ermöglichen, mit den Widerständen, die uns die Natur entgegensetzt, fertig zu werden“ (25), sind absolut irreführend. Die Natur stellt uns keine Widerstände entgegen! Es ist nur ein winziger Teil der Natur – der Mensch – der das manchmal denkt. Die Natur, die Umwelt, der gesamte Kosmos – sie sind dem Menschen keineswegs feindlich gegenübergestellt. Wie könnten sie auch, wo er doch ein Teil ihrer Selbst ist!? Weder Erdbeben noch Tornados sind ‚böse’.

Selbstverständlich gibt es einzelne Elemente, die uns individuell feindlich gegenübertreten können. Die meisten davon sind allerdings andere Menschen, häufig in ihrer Erscheinungsform als Autofahrer (sic!), und dann gibt es hier und da vielleicht noch ein hungriges Raubtier, das sich uns einverleiben will. Ebenso gibt es Bereiche, die unseren Körpern nicht so ohne weiteres zugänglich sind, obwohl ich finde, daß wir es auch hier schon recht weit gebracht haben. Erst die Aerodynamik, dann die Tiefsee, und schließlich der Mond und die Orbitalstationen. Man bedenke: Noch schützen wir uns ausschließlich durch äußere Hüllen – wie aber, wenn sich unsere Zivilisation zukünftig für durchgreifende genetische Verbesserungen des Körpers ausspricht?!

Auch die Erfindung des Glases, die ich als die bislang wichtigste menschliche Innovation betrachte, untermauert meine These. Denn das Glas hat unserem Gesichtssinn die Dimensionen des Mikro- und des Makrokosmos eröffnet. Und wie viele ‚Feinde’ haben wir dabei gefunden? Ein paar wenige Bakterienstämme unterm Mikroskop, und das eine oder andere giftige Insekt unter der Lupe vielleicht. Aber natürlich viel gegnerische Infanterie im Fernglas!

Doch zurück zur Holophysik.

Wird eine neue Betrachtungsweise gefunden, dann schüttelt sich die ganze Welt in ein neues Muster. Will man dabei in den Kreislauf von Beobachtung und Folgerung eintreten, dann sollte man beherzigen: „Überprüfte Gesetze gelten für die Bedingungen, unter denen sie überprüft werden“ (26). Denn die Bedingungen sind nicht überall gleich. Und: Zu ihnen gehören auch eine Menge Ingredienzien wie die Betrachtungsweise selbst, das existierende Vorwissen, die Versuchsanordnung, bewußte und unbewußte Motivationen usw. usf.

Und genau wie man eine vollgekritzelte Tafel wieder abwischt, bevor man sich dem nächsten Thema zuwendet, genau so sollte man auch die ‚innere Tafel’ von Zeit zu Zeit abwischen – um eine freie Fläche für neue selbstbeobachtete und selbstgedachte Dinge zu haben. Erst dann kann sich das Potential der Wandlung entfalten.

Die islamische Kulturblüte vor rund 1.000 Jahren kannte wohl schon eine Frühform der Holophysik, denn ein wichtiger Grundsatz der damaligen arabischen Wissenschaft lautete:

„Aus den Lehren der Alten wird nichts übernommen, was nicht durch die eigene Erfahrung bestätigt werden kann; die eigene optische Wahrnehmung ist die Grundlage für die Erfassung der Wahrheit.“ (27)


Oder, wie es Ibn al-Khatib (1002 – 1071) ausdrückte, ein arabischer Gelehrter und Dichter, der auch eine Geschichte Bagdads geschrieben hat:

„Es muß immer unser Grundsatz sein, daß ein Beweis, der aus der Überlieferung entnommen ist, eine Änderung zu erdulden hat, wenn er in klarem Gegensatz zur Evidenz unserer Sinneswahrnehmung steht.“ (28)


... denn schließlich, so fügt ein aufgeschlossener heutiger Zeitgenosse hinzu, „wird eine Meinung nicht dadurch zu Wissen, indem sie autoritär geäußert wird!“ (29)


Die Grundeinstellung der holophysischen Betrachtungsweise lautet demzufolge:

- Ich suche neues und anwendungsbereites Wissen.

- Auf dieser Suche belasten mich keine bisherigen Formulierungen bisherigen Wissens.

- Am Ziel treffe ich neue Formulierungen neuen Wissens.


Bewegen wir uns also methodisch dem Ziel entgegen.


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